Emmaus-Nikopolis

3. Kann das Emmaus, das 30 Stadien (ungefähr 6 km) von Jerusalem entfernt war, welches Flavius Josephus erwähnt, das Emmaus des Neuen Testamentes sein?

Diese Frage betrifft den folgenden Text aus dem Buch Jüdischer Krieg, 7, 6, 6 (der die Ereignisse von 72 n. Chr. berichtet):

Um dieselbe Zeit sandte der Kaiser dem Bassus und seinem Schatzmeister Laberius Maximus den Befehl zu, das ganze Judenland käuflich zu vergeben. Vespasian hatte sich nämlich das Land als Hausgut vorbehalten und darum auch keine Städtegründungen unternommen, mit alleiniger Ausnahme der 30 Stadien von Jerusalem entfernt gelegenen Ortschaft Emmaus [Griechisch: Ἀμμαοῦς, Lateinisch: Amassa, Amassada], die er an 800 verabschiedete Soldaten zur Ansiedlung verschenkt hatte. Außerdem hatte der Kaiser den Juden allerorts eine Steuer von zwei Drachmen per Kopf auferlegt, die sie fortan alle Jahre an den Tempel auf dem Capitol abliefern mussten, wie sie dieselbe früher dem Tempel zu Jerusalem geleistet hatten. Soweit also war es mit den Juden gekommen!

Übersetzung von Philipp Kohout, Linz, 1901, siehe den Originaltext hier.

Der Text spricht über die Gründung einer römischen Siedlung, Colonia, nahe des jüdischen Dorfes von Moza 30 Stadien (6 km) entfernt von Jerusalem (siehe: Strack & Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, München, 1924, 1989, Bd. II, S. 271).

Der Jüdische Krieg kam in Manuskripten griechischer und lateinischer Sprache auf uns. Die ältesten überlebenden griechischen Manuskripte von Flavius Josephus gehen nur auf die Kreuzfahrerzeit zurück und geben die Namen vieler Orte aus Palästina inkorrekt wieder. Diese Manuskripte wurden von christlichen Kopisten geschrieben, was auch erklärt, dass die Entfernung zwischen Jerusalem und Emmaus-Colonia in einigen Manuskripten des Buches „Jüdischer Krieg“ in 7, 6, 6 mit 60 Stadien angegeben wird, zweifellos auf Grund des Einflusses des Lukasevangeliums. Aus demselben Grund wurde anscheinend der Name „Moza“ von ihnen als „Emmaus“ wiedergegeben.

In den älteren, lateinischen Manuskripten wird „Moza“ als „Amassa“, „Amassada“ wiedergegeben. Man beachte, dass weder in jüdischen noch in römisch-byzantinischen oder arabischen Quellen Moza je Emmaus genannt wurde. Daher kann man nur auf Grund der griechischen Manuskripte des Jüdischen Krieges 7, 6, 6 nicht schließen, dass Moza zu Beginn unserer Ära den Namen von „Emmaus“ getragen hätte.

In der byzantinischen Epoche wurde Moza nicht als Ort verehrt, der mit der Auferstehung Jesu verbunden worden wäre, und auch überhaupt nicht als heiliger Ort. Vielleicht wurde die Verbindung zwischen dem Dorf von Moza und der Geschichte von Emmaus im Evangelium des Lukas 24, 13-35 kurz vor den Kreuzzügen hergestellt. Die erste Erwähnung von Emmaus in einer Entfernung von 30 Stadien von Jerusalem erscheint im Text von Hl. Johannes Mauropous, dem Metropoliten von Euchaita, geschrieben ca. 1050, und gehört annähernd in dieselbe Zeit wie die griechischen Manuskripte des Flavius Josephus (siehe: Früharabische Epoche):

In Bezug auf die Worte‚ ‚das Dorf, das von Jerusalem ungefähr sechzig Stadien entfernt war‘: Manche dehnen diese Entfernung viel weiter aus, während andere sie auf dreißig Stadien herabsetzen und behaupten, dies sei die Entfernung zwischen Emmaus und Jerusalem …

Hl. Johannes Mauropous, Metropolit von Euchaita, Brief 117, geschrieben 1050, unsere Übersetzung aus: I. Bollig, P. De Lagarde, Iohannis Euchaitorum Metropolitae quae in Codice Vaticano Graeco 676 supersunt, Gottingae, 1882, S. 63, siehe den Originaltext hier.

Man sollte beachten, dass der Metropolit Johannes nicht die Tatsache bezeugt, dass zu jener Zeit wirklich ein Dorf namens Emmaus in einer Entfernung von 30 Stadien von Jerusalem existierte, sondern er sich nur auf eine Meinung bezieht, die es dorthin verlegte.

Man beachte, dass in keinem der Manuskripte des Lukasevangeliums eine Entfernung von 30 Stadien als die Distanz zwischen Jerusalem und Emmaus erscheint; alle enthalten entweder 60 oder 160 Stadien. Als er die beiden Jünger unterwegs nach Emmaus getroffen hatte, „legte Jesus ihnen dar, ausgehend von Mose und den Propheten, was in der Schrift über ihn geschrieben steht.“ (Lk 24, 27) Diese Erklärung dauerte sicherlich eine lange Zeit; auf jeden Fall mehr als eineinhalb Stunden, die man braucht, um 6 km zu gehen. Die Jünger verließen Jerusalem offensichtlich früh am Morgen, nachdem entdeckt worden war, dass das Grab Jesu leer war, aber gleichzeitig vor den ersten Erscheinungen des auferstandenen Jesus im Laufe des Tages, von denen sie nichts wussten. Ihre Reise brauchte offensichtlich ein paar Stunden, denn sie erreichten Emmaus erst am Nachmittag. Das ist zumindest der Eindruck, den wir vom Lesen des Textes des Evangeliums nach Lukas gewinnen. Daher erlaubt uns das nicht, anzunehmen, dass Lukas sich auf ein Dorf so nah bei Jerusalem bezog wie Moza. Das Markusevangelium 16, 12 spricht von der Erscheinung des auferstandenen Jesus den zwei Jüngern auf dem Weg „eis agron“, „aufs Land“, und das scheint auch keine genügende Basis für die Meinung zu ergeben, dass ihre Reise kurz war (entgegen E. Le Camu, La Bible et les études topographiques en Palestine, RB 1892, S. 100-112).

Laut F.-M. Abel, ab dem 12. Jh. könnte Moza von einigen Kreuzfahrern als Emmaus angesehen worden sein (siehe hier: Vincent & Abel, Emmaüs, Paris 1932, S. 383).

Beginnend mit dem 13.-14. Jahrhundert identifizieren einige Pilger das Dorf Beth-Ulma (Bethulme) in der Nähe von Moza als Emmaus (Siehe: M. J. Schiffers, Amwas, das Emmaus des hl. Lucas, Freiburg im Breisgau, 1890, S. 163-217, siehe hier; Vigouroux, Dictionnaire de la Bible, Bd. 2, Teil 2, Paris, 1912, Kolumne 1757-1758, siehe hier). (Zur Identifikation von Emmaus während der Kreuzfahrerzeit, siehe auch Frage #7).

Zum Thema Emmaus – Moza siehe: Edward Robinson, Biblical Researches in Palestine and the Adjacent Regions, the Voyage of 1852, Bd. III, Jerusalem, 1970 (siehe hier), Vincent & Abel, Emmaüs, Paris, 1932, S. 284, 382-385, siehe hier.

P. Benoit, Passion et Résurrection du Seigneur, Paris 1969, S. 309 und Carsten Thiede, The Emmaus Mystery, London, 2005, betrachten Moza als das Emmaus des Neuen Testamentes.